Bonner Akademie: In einer Krisenzeit, wie wir sie gerade erleben, ist schnelles Reagieren von staatlicher Seite aus überlebenswichtig. Wie sind die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern in Krisenzeiten aufgeteilt? Wo liegen die Unterschiede im Vergleich zur „normalen“ Situation?
Dr. Eva Marlene Hausteiner: Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass uns der bundesdeutsche Föderalismus derzeit so intensiv beschäftigt, denn die Covid-19-Pandemie interessiert sich bekanntlich wenig für Länder- oder Staatsgrenzen. Da aber weder auf der Ebene der EU noch global derzeit verbindliche Bekämpfungsversuche erfolgen, verläuft unser politisches Handeln in altbewährten Bahnen: Maßnahmen von Bund und Ländern.
Grundsätzlich wird die Corona-Epidemie in Deutschland innerhalb der etablierten Kompetenzverteilung bekämpft, also in erster Linie von den Ländern. Das Infektionsschutzgesetz, verabschiedet von Bundestag und Bundesrat und auf die bundesweite Infektionssituation zugeschnitten, wird durch Rechtsverordnungen der Länder ausdefiniert und in den Landkreisen und kreisfreien Städten vollzogen. In Bundesverantwortung stehen lediglich Maßnahmen wie Grenzschließungen und natürlich die beträchtlichen ökonomischen Unterstützungsmaßnahmen. Gemäß existierender Pandemiepläne bemüht sich der Bund darüber hinaus um eine aktive Koordinationsrolle, wie sich vor allem im Februar und März gezeigt hat, um Moderation und Vermittlung. Am 16. März wurden Leitlinien für ein gemeinsames Vorgehen unter Mitwirkung des Bundes vereinbart; diese wurden aber dann von den Ländern unterschiedlich implementiert. Dieses Vorgehen schien in der Akutphase der Epidemie gut zu funktionieren, war aber auf die Folgebereitschaft der Länder angewiesen. Dass diese nun stark gesunken ist, wirkt sich auch auf die Rolle des Bundes aus. Mit einer tatsächlichen Zentralisierung von Kompetenzen auf Bundesebene hatten wir es sicherlich zu keinem Zeitpunkt zu tun, aber mittlerweile hat die Bundesregierung auch ihre Moderations- und öffentliche Vermittlerrolle stark zurückgefahren.
Bonner Akademie: Seit Beginn der Corona-Krise wird über das föderalistische System Deutschlands so viel diskutiert wie schon lange nicht mehr. Selbst Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sprach von einem „ziemlichen Kompetenzwirrwarr“. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation? Welche Vor- bzw. Nachteile weist unser föderales System im Umgang mit der Krise auf?
Hausteiner: Der „Wirrwarr“ hat ja Methode: Der deutsche Föderalismus ist, anders etwa als in den USA, nicht dual, sondern eher kooperativ; die beiden Ebenen der Staatsorganisation sind nicht streng getrennt, sondern eng verflochten – administrativ wie politisch. Das heißt, dass sowohl per Grundgesetz als auch als Resultat von sieben Jahrzehnten Verfassungs- und Politikpraxis verschiedene Formen der Kooperation zwischen Bund und Ländern Usus sind. Das ist nichts Neues – ebenso wenig wie die kritische Feststellung der Nachteile des kooperativen Föderalismus, die gerade in der deutschen Politikwissenschaft auf eine lange Tradition zurückblickt.
Interessanter als die Frage der Kompetenzverteilung erscheint mir die sehr unterschiedliche Nutzung der Länderkompetenz im Infektionsschutz. Das (vor allem seitens vieler MinisterpräsidentInnen geäußerte) Lob unterschiedlicher „Lockerungs“-Strategien erinnert stark an die These vom Föderalismus als Laboratorium, die der US-Supreme-Court-Richter Louis Brandeis 1932 formuliert hat: Der Föderalismus kann demnach best practices identifizieren, wenn unterschiedliche Lösungen zu politischen Herausforderungen in den einzelnen Staaten erprobt werden, und die Länder dann nach solchen Testphasen die beste Strategie kopieren können. Epidemiologisch erscheint das tatsächlich plausibel: Öffnet Sachsen-Anhalt die Gaststätten, Nordrhein-Westfalen die Küchenstudios und Berlin die Grundschulen, ließe sich nach einer gewissen Zeit evaluieren, welche Strategien welche Auswirkungen hatten – ein nützlicher Effekt angesichts einer präzendenzlosen Herausforderung. Realiter beobachten wir aber derzeit einen Trend zur sehr schnellen Angleichung der Taktiken der Länder untereinander, ohne dass die einzelnen Effekte bereits bewertbar wären. Man könnte auch sagen: ein Lockerungsüberbietungswettbewerb, der sich zügiger vollzieht, als dies epidemiologisch begründbar wäre. Das könnte auf Motivationen des parteipolitischen Wettbewerbs zurückführbar sein.
Insgesamt ist ein strategischer Pluralismus unter den Bundesländern also nicht von vorneherein ein Problem, er wird aber meines Erachtens derzeit nicht optimal gehandhabt. Vor allem das Argument, die Länder könnten durch unterschiedliche Regelungen so auf die jeweils unterschiedliche Infektionslage adäquat reagieren, halte ich für nicht sehr plausibel: Erstens ist es nicht unbedingt so, dass nur sehr gering betroffene Bundesländer besonders forsch wieder öffnen. Vor allem aber richtet sich die Infektionslage nicht nach Ländergrenzen. Die Flächenländer umfassen ein großes Territorium und große Bevölkerungen, während Hotspots oft lokal umgrenzter sind.
Wäre ein Föderalismus, der wirklich nach dem Subsidiaritätsprinzip bestimmte Probleme an ihrer lokalen Wurzel löst, der Fokussierung auf Bund und Länder vorzuziehen? Das hieße dann, den Föderalismus nicht nur als Zwei-Ebenen-Arrangement zu denken, sondern die regionale bzw. kommunale Ebene aktiver miteinzubeziehen – und zwar nicht nur administrativ, sondern auch politisch.
Bonner Akademie: Im Nachbarland Frankreich werden auch in der Krise alle Entscheidungen von Paris aus getroffen und dann flächendeckend umgesetzt. Welche Vor- und Nachteile bietet das System des Zentralstaats?
Hausteiner: Ähnlich wie bei föderalen Systemen lassen sich Vor- und Nachteile nicht pauschalisieren, sie hängen von der konkreten institutionellen Ausgestaltung und vom Kontext ab. Grundsätzlich finde ich es erstaunlich – als ersten Zwischenbefund der Frühphase der Pandemie – wie wenig die föderale oder zentralistische Organisation verschiedener Staaten im Vergleich bislang ihren jeweiligen „Erfolg“ determiniert hat; hier scheinen andere Faktoren deutlich ausschlaggebender, etwa Traditionen des Vertrauens und Misstrauens in Staatshandeln.
Will man Vor- und Nachteile abwägen, hilft ein Blick in die Ideengeschichte: Immer wieder wurde dem Föderalismus etwa die Fähigkeit zugeschrieben, ein hohes Maß an Legitimität durch das Wachhalten von Bürgerpartizipation zu ermöglichen – diese Figur geht auf Montesquieu zurück. Zentralstaaten wurden dagegen bisweilen als zu „weit entfernt“ von bürgerschaftlichen Belangen und als zu unflexibel begriffen. Dass in einer Krisensituation nicht nur der Wunsch nach einer handlungsfähigen Exekutive, sondern auch nach einer einzigen Exekutive ausgeprägt ist, ist verständlich – aber gleichzeitig sollten auch die in der konkreten Situation vorliegenden Rahmenbedingungen mitbedacht werden. Ist das föderale „Wirrwarr“ beispielsweise etwas langsamer, aber genießen die politischen Entscheidungen dafür höheres Vertrauen? Fördert es etwa auch den Input zwischen BürgerInnen und politischen Repräsentanten, so dass diese im Blick behalten, wie ihre Krisenpolitik aufgenommen wird?
Bonner Akademie: Die unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Bundesländern haben in der Bevölkerung auch für Verwirrung und Unmut gesorgt. Was in NRW erlaubt ist, kann 2 km weiter in Rheinland-Pfalz noch verboten sein oder umgekehrt. Wäre im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit und Vermittelbarkeit gegenüber der Bevölkerung eine zentralisierte Umsetzung eventuell sinnvoller?
Hausteiner: Sicherlich wäre zu überlegen, ob eine Pandemiesituation nicht ein Fall ist, in dem temporär und sachlich begrenzt Kompetenzen gebündelt werden sollten. Die Schweiz etwa – kaum im Verdacht übermäßiger Zentralisierung stehend – verfügt über ein neueres Pandemiegesetz, das dies erlaubt. Hinsichtlich der Vermittelbarkeit sehe ich aber vor allem ein Kommunikationsdefizit: Während es sinnvoll sein kann, bestimmte administrative Maßnahmen vielleicht sogar noch weiter zu dezentralisieren, versäumt es die Bundesregierung, ihre kommunikative Reichweite zu nutzen. Diese Rolle des Bundes, komplementär zu Ländern und Kommunen, ist nicht im Grundgesetz verankert, kommt den Institutionen aber de facto zu. Die Krisenkommunikation sollte in zweierlei Hinsicht zentralisiert werden: Erstens könnte klarer formuliert werden, worin die mittelfristige oder sogar langfristige Strategie in der Bekämpfung der Krankheit besteht, nach der sich dann die lokalen Taktiken zu richten haben. Zweitens zeigen neue Handy-Mobilitätsdaten, dass das Verhalten der BürgerInnen – der entscheidende Faktor – nicht nur von Verboten oder Öffnungen, sondern vom Empfinden der Gefahrensituation, Wissen über Hygienemaßnahmen etc. bestimmt ist, die wiederum von öffentlicher Information stark abhängen. Die Institutionen des Bundes könnten mehr erklären und aufklären – und damit auch das bei einer zum Glück noch geringen Zahl von Menschen aufkommende Misstrauen gegen die Corona-Bekämpfungsstrategie eindämmen.
Bonner Akademie: Stärken und Schwächen eines Systems zeigen sich in Krisensituationen besonders, bieten aber gleichzeitig die Möglichkeit zur Weiterentwicklung und Verbesserung. Welche Chancen liegen in der aufkommenden Diskussion über die Funktionalität des Föderalismus?
Hausteiner: Auch wenn die Föderalismusdebatte derzeit in altbekannten Bahnen verläuft, ist mehr föderale Kreativität gefragt. Ein Blick in die Ideengeschichte zeigt, dass die Hauptthemen des Föderalismus – Machtteilung, Integration von Diversität, Sicherung von Demokratie und Partizipation – auch jenseits der Zwei-Ebenen-Dualität bearbeitet werden könnten. Neben der lokalsten Ebene der Machtteilung, auf die das Subsidiaritätsprinzip hinweist, sollten wir auch die Einbettung unseres Bundesstaates in übernationale föderale Gebilde im Blick behalten: Wenn wir der Auffassung sind, dass mehr Zentralisierung zur Krisenbewältigung nötig ist, müssen wir die Rolle der EU mitreflektieren – bislang wurden hier nicht nur politisch, sondern auch in der Analyse wichtige Chancen vertan. Letztlich kann eine föderale Perspektive auch dabei helfen, die Möglichkeit von Kooperation über mehrere politischen Ebenen jenseits Europas als Option wachzuhalten. Der Rückzug auf nationale Arenen in Krisenzeiten widerspricht föderalen Prinzipien.