Online-Veranstaltung: „Der Sozialstaat der Zukunft – überfordert oder überbordend?“

Hier finden Sie den Bericht und das Video der Online-Veranstaltung mit Hubertus Heil MdB, Prof. Dr. Jutta Allmendinger, Heike Göbel und Jürgen Pütz.

Hier können Sie sich die Online-Diskussion in voller Länge anschauen.

Am 4. März 2021 diskutierten Hubertus Heil MdB, Bundesminister für Arbeit und Soziales, Prof. Dr. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Heike Göbel, Redakteurin für Wirtschaftspolitik bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie Jürgen Pütz, Vorstandsvorsitzender der Volksbank Köln Bonn eG zum Thema Sozialstaat der Zukunft. Durch den Abend führte Julia Grimm, stellvertretende Redaktionsleiterin Ereignisse phoenix.

Nach der Begrüßung und inhaltlichen Einführung in das Thema des Abends durch Prof. Bodo Hombach, Präsident der Bonner Akademie, führte Minister Hubertus Heil MdB in einem einleitenden Impulsvortrag einige grundsätzliche und perspektivische Bemerkungen zum Sozialstaat an. Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland habe einen Verfassungsrang hat, beim sozialen Rechtsstaat gehe es immer um die Freiheit vor dem Staat und auch die Freiheit durch den Staat. In der aktuellen Situation stünde dabei die Bewährung des Sozialstaats in der Corona-Pandemie im Fokus. Im Brennglas sehe man nun, was funktioniert, was sich bewährt, aber auch welche Defizite es gibt. Der Sozialstaat funktioniere gut für die Situation am Arbeitsmarkt und leiste viel, damit Unternehmen und Beschäftigte verhältnismäßig gut durch diese Zeit kommen, zum Beispiel durch die Kurzarbeit als ein „Instrument, was wirkt und was gut wirkt“. Aber es gebe auch Defizite, über die gesprochen werden müsse, beispielsweise die unzureichende Digitalisierung und die hohen bürokratischen Hürden. Die Aufgabe des Sozialstaats der Zukunft müsse es sein, Chancen und Schutz im Wandel zu gewährleisten.

Die Moderatorin des Abends Julia Grimm leitete die anschließende Diskussion mit einer Umfrage ein, in der die Zuschauerinnen und Zuschauer darüber abstimmen konnten, ob sie den deutschen Sozialstaat als überfordernd oder überbordend wahrnehmen. 64 Prozent der Teilnehmenden sahen den Sozialstaat als überfordert, 36 Prozent als eher überbordend an. Auch die Diskutanten knüpften an die provokante Formulierung des Veranstaltungstitels an und deuteten sie um: Es gehe viel mehr darum, wie der Sozialstaat organisiert werden kann, damit er weder überfordert noch überbordend ist.

In ihren ersten Wortbeiträgen erläuterte Prof. Dr. Allmendinger drei momentane Überforderungen des Sozialstaats. Sie sehe eine Überforderung des Netzes zwischen staatlicher Infrastruktur und Arbeit und der Mechanismen, die einem Sozialstaat zur Verfügung stehen, eine Überforderung in der Umstellung des Arbeitsmarktes auf morgen („Wir haben immer noch keine richtige Umschulung“) sowie eine Überforderung in der Frage der Digitalität in vielen Bereichen. Minister Heil stimmte Prof. Dr. Allmendinger darin zu, dass es immer noch erhebliche Defizite in der Lohn- und Gehaltsstruktur und der Vereinbarkeit mit Sorge- und Reproduktionsarbeit gebe, die sich die Gesellschaft nicht mehr leisten könne.

Heike Göbel betonte, dass die Kurzarbeit in der Pandemie gut funktioniert habe und der Sozialstaat im Großen und Ganzen leistungsmäßig nicht überfordert sei. Dabei müsse jedoch diskutiert werden, wie der Sozialstaat für die nächste Krise leistungsfähig gehalten werden kann. Nach Heike Göbel sei der Sozialstaat so aufgestellt, dass Frauen gleichberechtigt am Arbeitsmarkt teilhaben können und hier müsse der Staat nicht weiter eingreifen. Auch Jürgen Pütz empfand den Sozialstaat als sehr leistungsfähig in dieser Krise. Aber ein wichtiger Punkt sei, dass der Staat es sich auch leisten können muss, die Staatsverschuldung wieder zu reduzieren. Sozialpolitik sei ein Stück weit auch Wirtschaftspolitik.

Auf die Frage, wie dies alles bezahlt werden solle, führte Minister Heil an, dass man für schwierige Zeiten Rücklagen bilden müsse. Die Staatsverschuldung könne nur runtergefahren werden, wenn gewirtschaftet wird, aber es müsse auch investiert werden. Frau Göbel stellte im Anschluss die Wichtigkeit einer Priorisierung in den Fokus: Es sei unklar, wo dies alles herkommen soll und ob man von einem langen Aufschwung nach der Krise ausgehen könne. In diesem Kontext sah Frau Allmendinger vor allem im Bereich Bildung großen Nachholbedarf: Die Zukunftsfähigkeit der Kinder sei anderem aufgrund des Investitionsstaus, Lehrermangels sowie der fehlenden Digitalität stark gefährdet. Neben staatlichen und kommunalen Leistungen und Bildung müssen Männer intensiviert werden, mehr anzupacken. Jürgen Pütz betonte, dass es einen gewaltigen Nachholbedarf bei Frauen in Führungspositionen gebe. Zudem schloss er sich Minister Heil und Prof. Dr. Allmendinger an, dass das Thema Bildung bei der Priorisierung ganz oben stehen müsse, vor allem sehe er einen großen Nachholbedarf bei der Digitalisierung, technischen Ausstattung und Kompetenz an Schulen – dort müsse investiert werden.

Julia Grimm stellte den Diskutanten des Abends zudem die Frage, ob es nicht mehr ehrliche und klare Worte zur zukünftigen Finanzierung der Rente geben müsse. Minister Heil stellte klar, dass es zwischen 2025 und 2040 erhebliche demographische Herausforderungen für das Alterssicherungssystem geben wird. Man müsse bei den Langzeitarbeitslosen ohne abgeschlossenen Berufsabschluss ansetzen und ergänzend werde qualifizierte Zuwanderung gebraucht. Die Leistungsfähigkeit der Rente und der sozialen Sicherungssysteme richte sich am Ende danach, wie hoch die Beschäftigungsintegration am Arbeitsmarkt ist. Minister Heil, Frau Prof. Dr. Allmendinger und Jürgen Pütz erläuterten anschließend die Wichtigkeit einer hohen Flexibilität für die Menschen, vor allem in der Gestaltung des Übergangs in die Rente.