„Wer hält das Land zusammen?“ lautete die zentrale Fragestellung, mit der sich eine prominent besetzte Podiumsdiskussion der Bonner Akademie und der Brost-Stiftung am 22. März 2019 im Bochumer „Jahrhunderthaus“ befasste. Über „Repräsentation und gesellschaftliche Teilhabe“ – die im Besonderen im Ruhrgebiet, aber auch in Gesamtdeutschland – „vor neuen Herausforderungen“ steht, diskutierten Oliver Wittke, MdB (CDU), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sebastian Hartmann, MdB, Vorsitzender der NRWSPD, die Vorsitzende des DGB NRW, Anja Weber sowie der renommierte Demoskop Manfred Güllner, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Forsa. Durch die Abendveranstaltung führte Moritz Küpper – als NRW-Korrespondent des Deutschlandfunks.
Prof. Dr. Volker Kronenberg, Projektleiter des Forschungsprojekts „Integrationspolitik für die Mehrheitsgesellschaft“, betonte in seinen einführenden Worten die stabilisierende, integrative Wirkung von Volksparteien und Gewerkschaften. „Was Volksparteien wie Gewerkschaften bisher immer ausgezeichnet hat, ist ihre Fähigkeit, verschiedene soziodemographische Spektren zusammenzuführen, deren partikulare Interessen zu bündeln, zu destillieren und in praktische Politik für die Mehrheitsgesellschaft zu transformieren.“ Aufgrund vielfältiger gesellschaftlicher, politscher und kultureller Wandlungsprozesse, sinkender Zustimmungswerte und Mitgliederzahlen stünden diese gesellschaftsverbindenden Institutionen heute jedoch vor großen strukturellen Herausforderungen: „Insbesondere im Ruhrgebiet, wo die sozialen Abstiegsängste im Zuge des Strukturwandels besonders groß sind und zugleich ein hoher Anteil von Migranten lebt, ist die Gefahr, dass ein relevanter Teil der Gesellschaft sich ausgeschlossen fühlt, besonders groß.
Gleich zu Beginn der Podiumsdiskussion bekannte sich Oliver Wittke, MdB unmissverständlich zur bundesrepublikanischen Parteiendemokratie und zum spezifischen Typus der Volksparteien. Sie seien in einer pluralistischen Gesellschaft zur notwendigen Bündelung einer Vielzahl unterschiedlicher Meinungen und zum Ausgleich verschiedener Interessen unerlässlich und hätten sich in der Vergangenheit dabei bewährt: So bestehe heute weitestgehend ein nicht nur parteiübergreifender, sondern auch gesamtgesellschaftlicher Konsens über die freiheitlich-demokratische Grundordnung, über die Soziale Marktwirtschaft als ökonomisches Modell und nicht zuletzt über die feste Verankerung im europäischen Einungsprojekt. Kritisch sah Wittke jedoch den gesellschaftlichen Megatrend der Individualisierung, den er in einem immer stärker zunehmenden Maße auszumachen glaubt.
Die positive Bewertung der Parteiendemokratie durch seinen christdemokratischen Abgeordnetenkollegen aus dem Deutschen Bundestag bekräftigte Sebastian Hartmann, MdB zwar durchaus – dem Auseinanderdriften der „Mehrheitsgesellschaft“ in eine zunehmende partikularer werdende „Minderheitengesellschaft“ dürfe jedoch nicht begegnet werden, indem man etwa postmaterialistischen Fragestellungen die politische Relevanz abspreche. Vielmehr, so Hartmann, solle „die Antwort auf Individualisierung nicht noch mehr Individualität, sondern Solidarität sein.“ Mit Blick auf die Digitalisierung formulierte er den Anspruch, dass aus diesem technologischen Fortschritt auch sozialer Fortschritt folgen müssen – sonst spalte sich auch hier die Mehrheitsgesellschaft einmal mehr in vermeintliche „Gewinner“ und „Verlierer“ eines unaufhaltsamen Megatrends unserer Zeit. Darüber hinaus zeige aber die – etwa in Bezug auf die Vermögensverteilung – vielfach attestierte soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik, dass es auch an der Zeit sei, die verteilungspolitische Frage neu zu stellen.
Aus gewerkschaftlicher Perspektive stimmte Anja Weber, DGB-Vorsitzende Nordrhein-Westfalens, in den Kanon ihrer Mitdiskutanten ein, die in den Prozessen der Globalisierung und der Individualisierung die gesellschaftlichen Fliehkräfte ursächlich verorten. Das Land zusammenzuhalten, sei immer auch die Aufgabe von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern gewesen, so Weber. Mit den neuen Herausforderungen, denen sich auch die organisierte Arbeitnehmerschaft gegenübersieht, sei es jedoch an der Zeit, auch die Kommunen finanziell besser auszustatten, um sie vor Ort handlungsfähiger zu machen, und die politische Bildung an den Schulen zu forcieren, um ein Bewusstsein für die Komplexität politischer und ökonomischer Prozesse im Zeitalter der Globalisierung zu vermitteln. In diesem Kontext essentiell für die Gewerkschaften seien vor allem die arbeitsmarkpolitischen Rahmenbedingungen: „Es geht darum, Mitbestimmung und Tarifbindung zu stärken – so schafft man Gute Arbeit und sozialen Zusammenhalt.“
Prof. Manfred Güllner, der die lebhafte Diskussion unter den Podiumsteilnehmern fortwährend mit Zahlen aus der demoskopischen Forschung untermauerte, attestierte zumindest mit Blick auf die beiden Volksparteien einen handfesten Vertrauensverlust in der Bevölkerung und einen damit ebenfalls einhergehenden Verlust an gesellschaftlicher Bindekraft, der bereits weit vor die in diesem Zusammenhang oftmals in Spiel gebrachte Etablierung der AfD zurückreiche. Grund dafür sei vielmehr eine Entfernung der Politik von den Bürgerinnen und Bürgern sowie eine wahrgenommene Fokussierung der politischen Themenagenda auf gesellschaftliche Minderheiten, denn auf die Anliegen der Mehrheit der arbeitenden Menschen. Dieser Vertrauensverlust sei gerade im Ruhrgebiet besonders signifikant: Während bundesweit 51 Prozent der Bürgerinnen und Bürger etwa ihrem Bürgermeister – der meist als am unmittelbarsten wahrgenommene Repräsentant des politischen Systems – Vertrauen schenken, gilt dies hier nur für 43 Prozent der Bürgerinnen und Bürger.
Die zuvor vieldiskutierten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse sind für Güllner letztlich Ausdruck eines steten sozialen Wandels, der schon immer existiert habe – und wie immer sei es aber auch jetzt entscheidend, wie die Politik darauf reagiere. Gleiches gelte für die AfD: Ein für rechtspopulistisches bis rechtsradikales Gedankengut empfängliches und prinzipiell parteiförmig abrufbares Potenzial habe es in der deutschen Bevölkerung schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges gegeben.