Prof. Dr. Ulrich Schlie: Die größte sicherheitspolitische Gefahr der gegenwärtigen Pandemie bezieht sich naturgemäß auf die Weltgesundheit, d.h. auf die Unversehrtheit aller Erdenbürger. Alle Folgewirkungen für Wohlstand und Wohlergehen, Weltwirtschaft, gesellschaftliche Stabilität und sozialen Zusammenhalt, das Verhältnis der Staaten untereinander, leiten sich daraus ab. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir Sicherheitspolitik global verstehen und in ihren gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen viel weiter fassen, als wir dies bisher getan haben. Und wir müssen achtsam sein, dass die gegenwärtige Instabilität nicht von unverantwortlicher Seite zu Machtmissbrauch und Gewalteskalation genutzt wird. Dazu zählt auch der Umgang mit Flüchtlingen und Hungerrevolten im Zusammenhang mit Staatenzerfall und schwachen Staaten. Erste, und sehr bedenkliche Entwicklungen in solche Richtungen sind leider bereits erkennbar.
Bonner Akademie: Nato-Generalsekretär Stoltenberg forderte die Mitgliedsstaaten auf, trotz Corona den Wehretat weiter aufzustocken. Ist dies Ihrer Meinung nach im Hinblick auf die sicherheitspolitische Lage notwendig oder sollten alle verfügbaren Ressourcen primär in die Bekämpfung der Pandemie und deren Folgen investiert werden?
Schlie: Zunächst sollten alle Bestrebungen darauf ausgerichtet sein, die Ausbreitung des Virus einzudämmen und die lebensbedrohlichen Auswirkungen abzumildern. Alle anderen Fragen sind cura posterior. Wir müssen uns jedoch daran gewöhnen, dies lehrt die gegenwärtige Pandemie, Sicherheitspolitik in einem viel breiteren Verständnis als vorausschauende Sicherheitspolitik zu begreifen, bei der militärische und nicht-militärische Aspekte ineinander übergehen. Mit diesem Verständnis wird sich die internationale Sicherheitslage nach der Corona-Pandemie nicht fundamental ändern. Es gibt daher leider auch keinen Grund, auf eine Friedensdividende in der Nach-Corona-Welt zu spekulieren. Nur weil neuartige sicherheitspolitische Bedrohungen hinzukommen, die nicht von einem Staat ausgehen, heißt dies nicht, dass klassische Bedrohungen, wie militärische Konflikte, auf einmal ignoriert werden können. Insoweit erscheint der Zeitpunkt von GS Stoltenbergs Forderung nicht ganz überzeugend, inhaltlich sie ist aber durchaus angebracht.
Bonner Akademie: Russland hat unlängst militärische Manöver im westlichen Militärdistrikt durchgeführt und Kriegsschiffe in die Nordsee geschickt. Wie schätzen Sie diese militärischen Aktivitäten seitens Russlands ein? Wie groß ist die Gefahr, dass aus der gesundheitspolitischen eine sicherheitspolitische Krise wird?
Schlie: Mit dem erweiterten Sicherheitsbegriff ist die gesundheitspolitische bereits jetzt eine sicherheitspolitische Krise. Auch Russland ist von den Auswirkungen der Pandemie massiv betroffen und kann auf Deutschlands Solidarität zählen. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Pandemie nicht zu einem fundamentalen Sinneswandel in der Bedrohungswahrnehmung führt, sondern ein zusätzlich zu behandelndes Sicherheitsrisiko darstellt. Ich setze auf die Einsicht der russischen Führung, dass sie die Zeichen der Zeit erkennt und diejenigen zur Verantwortung zieht, die als Ablenkungsmanöver in der Krise einer unverantwortlichen Politik des Säbelrasselns und martialischer Großmanöver das Wort reden.
Bonner Akademie: Einem internen Bericht des Europäischen Auswärtigen Dienstes zufolge haben dem Kreml nahstehende Medien Falschmeldungen verbreitet, um die gesundheitspolitische Krise in westlichen Ländern zu verschärfen. Welche Gefahr geht von diesen „Fake News“ aus?
Schlie: Fake News sind leider eine traurige Realität, und sie können, von wem auch immer sie ausgehen, gewaltigen Schaden anrichten. Es kommt deshalb umso mehr darauf an, sie frühzeitig als solche zu entlarven und in der internationalen Gemeinschaft mit aller Konsequenz ihrer Verbreitung entgegenzutreten.