Bonner Akademie: „Fridays for Future“, Regierungskrise in Thüringen, die CDU auf der Suche nach einem neuen Vorsitzenden: Das meiste davon dürfte inzwischen fast vergessen sein, das Übrige scheint keine Rolle mehr zu spielen. Ist durch das Coronavirus jetzt alles anders?
Prof. Dr. Volker Kronenberg: Wie ein Meteorit ist das Coronavirus in die deutsche Innenpolitik eingeschlagen. Fast alles, was bis vergangene Woche noch wichtig schien und teils sehr leidenschaftlich diskutiert wurde, ist in den Hintergrund getreten. Die Maßstäbe dessen, was in Politik, Medien und Gesellschaft als dringlich erachtet wird, haben sich dramatisch verschoben. Die Fragen und Begriffe, die jetzt im Zentrum der politisch-gesellschaftlichen Aufmerksamkeit stehen, sind sehr grundsätzlich geworden: Droht eine Ausgangssperre? Reichen die Intensivbetten in den Krankenhäusern? Stehen Wirtschaft und Arbeitsmarkt vor einem totalen Kollaps?
„Wie immer in Krisenzeiten schlägt die Stunde der Exekutive“
Wie immer in Krisenzeiten schlägt die Stunde der Exekutive. Nachdem jahrelang fast täglich die Kakophonien der Koalitionsparteien im Bund die politisch-mediale Agenda dominierten, stehen jene, die aktuell Regierungsverantwortung tragen, nun geschlossen zusammen, um effektive Antworten auf Fragen zu finden, die sich jeden Tag neu stellen. Und das unter größtem Zeitdruck. Denn wenn wir eines inzwischen alle verinnerlicht haben sollten, dann, dass Zeit, die wir im Kampf gegen den unsichtbaren Feind gewinnen, Leben rettet. Noch zu Jahresbeginn blickten die meisten ungläubig, manch einer eher desinteressiert auf die dramatischen Zustände und Einschränkungen in einer bis dato vielen völlig unbekannten chinesischen Provinz. Heute kennen wir nicht nur alle Wuhan. Viele von uns fragen sich: Sind wir Wuhan?
Bonner Akademie: Welche Auswirkungen werden die aktuellen Entwicklungen langfristig auf die politische Landschaft der Bundesrepublik haben? Sehen Sie überhaupt noch einen Weg zurück zur Normalität?
Kronenberg: Natürlich wird irgendwann wieder eine gewisse Normalität einkehren – nur wird diese eine gänzlich andere sein, als die, die wir bislang gekannt haben.
„Wir werden ein neues Bewusstsein für bislang als selbstverständlich erachtete Rechte haben“
Bonner Akademie: Was bedeutet das konkret?
Kronenberg: Am Ende der „Corona-Krise“ werden alle Teile unserer Gesellschaft, Politik, Medien, Wirtschaft und Bürgerschaft, eine „Katharsis“ durchlaufen haben: Wir werden uns nicht nur einmal mehr von der Illusion absoluter Sicherheit und dem Glauben, dass unser Fortschritt in Technik, Wissenschaft, Medizin zugleich immer ein Vorsprung vor den Urgewalten der Natur ist, verabschiedet haben. Wir werden ein neues Bewusstsein für bislang als selbstverständlich erachtet Rechte haben.
Bonner Akademie: Können Sie uns da ein Beispiel nennen?
Kronenberg: Beispielsweise das Recht, sich auch nur im eigenen Nahbereich frei bewegen zu können. Auch die Freizügigkeit in der EU, deren Einschränkung gegenwärtig nicht mehr beispielsweise nur Menschen betrifft, die einen Urlaub im EU-Ausland geplant hatten, sondern jetzt auch unsere Lebensmittelversorgung auf eine harte Probe stellt, weil Erntehelfer in der Landwirtschaft fehlen, dürfte wohl selbst durch einen anti-europäischen Populismus schwerer zu diskreditieren sein. Womöglich wird dann auch eine bislang ungeahnt steile Lernkurve in den Möglichkeiten des digitalen Lernens und Arbeitens hinter uns liegen.
Vor allem aber – und das ist für mich das Entscheidende – werden wir wissen, ob sich ein Bürgersinn mobilisieren lässt (ober er gar noch da ist?), der über die schieren Pflichtschuldigkeiten von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen hinausgeht. Ob die Menschen in einer freiheitlichen Demokratie ihr Bürger-Sein nur als die legitime Berechtigung verstehen, ihre gänzlich individuellen Rechte und Ansprüche gegenüber dem Staat und den Mitbürgern durchzusetzen – oder ob aus Bürger-Sein eben auch eine individuelle Verantwortung füreinander, für den Nächsten und die res publica folgt. Denn auch jenseits von Krisenzeiten wäre gerade für unsere hochgradig differenzierten, kulturell vielfältigen liberalen Gesellschaften des Westens ein solches „inneres Band“ ein grundlegendes Erfordernis.
Bonner Akademie: Sie sprachen zu Beginn von der „Stunde der Exekutive“. Wie beurteilen Sie das Handeln der Kanzlerin in der Krise?
Kronenberg: Angela Merkel – zweifelsohne eine in mannigfachen Krisen erprobte Kanzlerin – hat in dieser Krise noch einmal Maßstäbe gesetzt. Ganz gleich, ob ihre eindringliche, jetzt schon historisch zu nennende Ansprache an die Nation ihre Wirkung zeigt oder es weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens geben wird: Merkel, der oft unterstellt wurde, sie erkläre ihre Politik unzureichend, hat sich mit wohl gewählten, aber deutlichen Worten an die Bevölkerung gewandt und genau das getan. Und: Gerade weil sie sich den „Niederungen“ der tagespolitischen Mediengefechte in der Tat üblicherweise weitgehend entzieht, hat ihr öffentliches Auftreten gerade jetzt natürlich ein ganz besonderes Gewicht.
„Es ist ein ungeschriebenes Gesetz der Politik, dass der, der sich in Zeiten der Krise bewährt, sich damit auch für höhere Aufgaben qualifiziert“
Bonner Akademie: Das Ende von Merkels letzter Amtszeit rückt gleichzeitig unwiderruflich näher. Was bedeutet die aktuelle Situation für die Kandidaten um die mögliche Nachfolge der Kanzlerin?
Kronenberg: Was ihre potenziellen Nachfolger angeht, so setzt die Krise, von der keiner weiß, wie lange sie dauern wird, freilich auch hier neue Maßstäbe: Der Fokus liegt gegenwärtig aus verständlichen Gründen nicht auf einem Schaulaufen der Kandidaten um den CDU-Parteivorsitz, das ja auch ganz bewusst nicht stattfindet. Wer hätte dafür jetzt auch noch Verständnis? Aber: Es ist ein ungeschriebenes Gesetz der Politik, dass der, der sich in Zeiten der Krise bewährt, sich damit auch für höhere Aufgaben qualifiziert. Insofern dürften die erklärten und unerklärten Kandidaten um die Merkel-Nachfolge im Kanzleramt, die aktuell Regierungsverantwortung tragen – Armin Laschet und Markus Söder – hier gleich doppelt im Vorteil sein: Ohne anzunehmen, dass derlei Überlegungen das Krisenmanagement der Ministerpräsidenten des bevölkerungsreichsten und des flächenmäßig größten Bundeslandes tatsächlich leiten, wäre es erstaunlich, wenn aus der Erfahrung des besonnenen, weitsichtigen aber zugleich klaren und entschiedenen Regierungshandelns in der größten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kein Präjudiz für die Nachfolge der Kanzlerin folgen würde. Und auch der Dritte im Bunde, als Gesundheitsminister bislang unzweifelhaft ein starker Akteur im Kabinett Merkel, weiß dies genau.