Interview mit Prof. Dr. Béla Bodó

Diese Woche beantwortete der Prof. Dr. Béla Bodó, Professor für Mittel- und Osteuropäische Geschichte
an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, unsere Fragen zu dem vielerseits kritisierten Krisenmanagement des ungarischen Premierministers Victor Orbáns.

von Redaktion / in Sonderveröffentlichungen /

Bonner Akademie: Wie bewerten Sie den allgemeinen Umgang und das Krisenmanagement der ungarischen Regierung mit der Corona-Pandemie?

Prof. Dr. Béla Bodó: Die ungarische Regierung reagierte früh und streng auf die Krise: Sie begrenzte Anfang März In- und Auslandsreisen und versetzte das Land schon Mitte März fast vollständig in einen ‚Lockdown‘. Grenzen, Schulen und Lokale wurden geschlossen, es wurden Ausgangsbeschränkungen eingeführt und viele Unternehmen mussten die Produktion stoppen oder drosseln. Die Maßnahmen sind weniger streng als in Spanien oder Italien, aber härter als bei uns in NRW. Man kann sie mit denen Österreichs vergleichen. Der Fokus lag auf dem Schutz der Älteren. Sie wurden aufgerufen, zu Hause zu bleiben, ihre Angehörigen gebeten, Besuche zu beschränken. Kleinere Gemeinden wurden zum Teil mit Lebensmitteln versorgt, um die Mobilität zu verringern. China beliefert das Land mit dringend benötigter medizinischer Ausrüstung, daher waren z.B. Masken in Ungarn einfacher zu bekommen als in Deutschland oder den USA. Bis heute gibt es keine staatlich angeordnete Maskenpflicht, aber viele Kommunen haben eine solche inzwischen eingeführt.

Die Regierung schreibt die niedrigen Infektions- und Todeszahlen dem Erfolg ihrer Maßnahmen zu. Sie sind in der Tat beeindruckend, jedoch nicht komplett realitätsgetreu. Offizielle Zahlen könnten zudem bewusst niedrig gehalten sein, um die Situation zu beschönigen. Es wurde weit weniger getestet als z.B. im Nachbarland Österreich, sodass die Dunkelziffer weit höher sein könnte. Doch der ‚Lockdown‘ hat die Ausbreitung definitiv verlangsamt. Da die Sterberate der über 55-Jährigen in Ungarn schon immer höher war als in vielen westeuropäischen Ländern, war die Risikogruppe im Vorfeld kleiner. Zudem sind Seniorenheime chronisch unterfinanziert und in schlechtem Zustand, sodass weniger ältere Menschen dort leben. Ungarische Gastarbeiter sind eher in Großbritannien, Österreich oder Deutschland beschäftigt, wo die Infektionszahlen niedriger sind. Viele von ihnen sind in der Krise nicht nach Ungarn zurückgekehrt. Auch das schlägt sich in den niedrigen Zahlen nieder. Die ungarische Regierung hat schnell und gut auf die Pandemie reagiert, doch die Gesundheitspolitik der letzten zehn Jahre war katastrophal. Krankenhäuser, besonders in ländlichen Gegenden, sind in schlechtem Zustand. Die Gebäude sind alt, es mangelt an Betten, Ausrüstung und Personal, selbst Desinfektionsmittel oder Toilettenpapier fehlen teilweise. Viele Fachkräfte sind aufgrund niedriger Löhne ausgewandert. Wie alle Regierungen seit 1990 hat die derzeitige wenig getan, um Korruption zu bekämpfen, eher im Gegenteil. So ist z.B. nicht bekannt, wie die chinesischen Versorgungsgüter verteilt worden sind. Die Entlassungen von medizinischen Führungskräften, die Missstände anprangern, haben die Verwirrung und Sorge gesteigert, was die Qualität der medizinischen Versorgung mindert. Das Notstandsgesetz untergräbt Arbeitnehmerrechte und vereinfacht Entlassungen. Dies trägt wiederum zu Massenarbeitslosigkeit und einem Abfall der Lebensqualität großer Bevölkerungsteile bei. 

Bonner Akademie: Im Zuge der derzeitigen Pandemie hat sich Viktor Orbán durch ein Notstandsgesetz weitere umfassende Befugnisse erteilen lassen. War dieses Gesetz notwendig, um die Krise bewältigen zu können oder ist es eher ein weiteres Mittel der viel kritisierten Machtakkumulation Orbáns?
Bodó: Weitreichende Medienkontrolle gestattet es der ungarischen Regierung, ihr eigenes Narrativ der Pandemie zu verbreiten und sie so zu ihrem Vorteil zu nutzen. Das Corona-Virus hat die Flüchtlingskrise als mediales Hauptthema verdrängt und die Ermächtigung der Regierung legitimiert. Besonders zu Beginn der Krise waren beide Themen jedoch verwoben: Regierungsfreundliche Medien versuchten, die Bürger zu überzeugen, dass Flüchtlinge das Virus verbreiten könnten. Vor allem aufgrund ausländischen Drucks wurde dieses Narrativ in den vergangenen Wochen jedoch reduziert. Dennoch hat die Regierung die Krise als Vorwand gegen die Bearbeitung von Asylanträgen genutzt.

Sowohl die Entstehung als auch die Ziele des Regierungserlasses 40/2020 und der folgenden Ermächtigungsgesetze sind umstritten. Viele Kritiker behaupten, dass sie unnötig und verfassungswidrig seien. Bereits 1997 und 2011 waren Erlässe zum Umgang mit medizinischen Notfällen und Naturkatastrophen verabschiedet worden. Die Befugnisse der Regierung hätten auch vor dem Notstandsgesetz ausgereicht, um die derzeitigen Maßnahmen anzuordnen. Die Opposition und ausländische Beobachter fürchten, es könne sich um eine größere Strategie zur Umwandlung Ungarns in ein autoritäres Regime handeln. Andere sind der Meinung, die Notstandsgesetze seien zwar übertrieben, aber nur ein temporärer und umkehrbarer Schritt in die falsche Richtung. Die Regierung behauptet, die Maßnahmen seien verfassungskonform und die Gewaltenteilung werde nicht beeinträchtigt, da Legislative und Judikative ihre Verordnungen jederzeit kippen könnten. Doch die Regierungspartei Fidesz hat eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und könnte solche Versuche blockieren. Gerichte sind wegen der Corona-Krise geschlossen, und auch unter normalen Umständen würde es in solchen Fällen Monate oder Jahre dauern, Urteile zu erreichen. Das Verfassungsgericht arbeitet weiterhin, doch die Schlüsselfiguren unterstützen die Regierungspolitik. Weder die Legislative noch die Judikative sind daher unabhängige Akteure. Die Gewaltenteilung existiert auf dem Papier, doch die Notstandsverordnung wird in Kraft bleiben, bis der Ministerpräsident und die Regierung sie für beendet erklären.

Bonner Akademie: Von der EU wird die Gesetzgebung Ungarns wiederholt kritisiert, es droht sogar ein Gerichtsverfahren wegen Verstößen gegen das EU-Recht. Sind die Kritik und die Androhung von Strafen aus EU-Sicht geeignete Mittel, um Orbán zur Mäßigung zu bewegen oder bewirken sie eher das Gegenteil?
Bodó: Die EU befindet sich in einer Zwickmühle. Sie könnte ihre Macht einsetzen, um die Einhaltung ihrer Gesetze und Regulationen zu sichern und Verstöße zu ahnden. EU-Gelder sind dazu gedacht, eine Wertegemeinschaft zu schaffen, doch in Ungarn fördern sie zurzeit eine Regierung, die die Mehrheit der EU-Mitglieder als undemokratisch oder zumindest als demokratisch defizitär betrachten. Dennoch denke ich, dass eine Einstellung der Zahlungen an ein vergleichsweise armes Land wie Ungarn weder politisch ratsam noch moralisch legitim wäre. Wenn ich mich nicht irre, besitzt das EU-Parlament keine entsprechenden Kompetenzen, und die Kommission – in der Ungarn ein Vetorecht hat – wird nichts dergleichen tun. Entsprechende Diskussionen stellen die EU in ein schlechtes Licht. Die Einstellung der Zahlungen würde bestenfalls als westliche Arroganz interpretiert werden, schlimmstenfalls als Erpressung. Sie würden der ungarischen Opposition schaden und die Regierung, die sich ohnehin bereits angegriffen fühlt, weiter bestärken. Sanktionen würden die Vorbehalte gegen empfundene Gegner wie linke oder grüne EU-Politiker befeuern, die angeblich von „Globalisten“ wie George Soros oder den „Leitmedien“ kontrolliert werden. Sie würden der Regierung erlauben, sich als Opfer zu präsentieren, und zudem die Ungarn verärgern, die zwar nicht mit der Staatspolitik sympathisieren, aber auf die EU-Subventionen angewiesen sind.

Bonner Akademie: Unterscheiden sich die Maßnahmen des Notstandsgesetzes wirklich von denjenigen, die in anderen Staaten weltweit zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verabschiedet worden sind? Oder wird Ungarn anders bewertet, weil Orbán generell kritischer gesehen wird als andere Regierungschefs?
Bodó: Die Pandemie gefährdet die liberale Demokratie weltweit. Grundrechte wie die Bewegungs-, Versammlungs- und Redefreiheit wurden vielerorts beschnitten. Das politische Leben beschränkt sich zurzeit auf das Krisenmanagement, und viele Medien betreiben Selbstzensur. Die Krise hat weltweit zu mehr Überwachung geführt, nicht nur die Regierung Ungarns hat mit der Speicherung von Bewegungsdaten begonnen. Teilweise tolerieren Regierungen Denunziation oder ermuntern dazu. In vielen Ländern sorgt das Militär für die Einhaltung von Ausgangsbeschränkungen, oft nutzt die Polizei Gewalt, um Regelbrecher zu bestrafen. Die Demokratie ist einer universellen Bedrohung ausgesetzt und eine Rückkehr zur Situation vor der Pandemie ist vielerorts unwahrscheinlich. Dabei haben sich nicht nur rechte Regierungen zu harter Maßnahmen schuldig gemacht. Der strengste ‚Lockdown‘ wurde meines Wissens im sozialistisch regierten Spanien verhängt. Viele Staaten haben die Krise auch zu Steuererhöhungen genutzt, und zahlreiche Beamte haben ihre Stellungen verloren. Auch Ungarn hat Steuern erhöht, sowohl für kleine, lokale Geschäfte als auch für internationale Unternehmen. Der Erlass 46/2020 gibt dem Minister für Innovation das Recht, Persönlichkeitsdaten der Bürger auszuwerten – angeblich zum Kampf gegen die Pandemie. Erlass 47/2020 hat die Arbeitnehmerrechte stark eingeschränkt. Keine dieser Maßnahmen hat mit dem Gesundheitsschutz der Bürger zu tun.

Diese Maßnahmen folgen einem globalen Trend, doch zwei Faktoren machen Ungarn zum Einzelfall. Meines Wissens hat kein anderes Parlament seine Regierung durch ein Ermächtigungsgesetz zur Regierung per Dekret auch über die Dauer des Notstandes hinaus befähigt. Zudem wurde zwar in vielen Ländern die Armee zur Unterstützung herangezogen, aber nur in Ungarn wurden Krankenhäuser militärischer Kontrolle unterstellt. Gemäß der Anordnungen des Gesundheitsministers hat das Militär 36.000 Krankenhausbetten geleert, Patienten wurden oft heimgeschickt. Dies könnte Teil einer langfristigen Strategie zur Kürzung des Gesundheitshaushaltes sein. Zwei Krankenhausdirektoren wurden wegen ihres Widerstandes gegen diese Maßnahmen entlassen. Zudem sitzen per Regierungserlass inzwischen militärische Vertreter in den Vorständen von 150 systemrelevanten Unternehmen.

Bonner Akademie: Wie ist die Stimmung in der ungarischen Bevölkerung hinsichtlich der veränderten Gesetzeslage und der Maßnahmen der Regierung? Werden die Notstandsgesetze vom Volk begrüßt oder erregen sie eher Sorge?
Bodó: Die Bevölkerung ist gespalten, doch das war bereits vor der Krise so. Unterstützer der Regierung behaupten, die neuen Maßnahmen seien gerechtfertigt. Die Oppositionsparteien, ihre Wähler sowie ein großer parteiloser Bevölkerungsteil, der die Regierung ablehnt, fürchten, dass die Maßnahmen unumkehrbar sind. Sie sind überzeugt, dass Ungarn eine Diktatur geworden ist. Diese Lager kommunizieren jedoch nicht miteinander: Sie konsumieren unterschiedliche Medien und interpretieren politische Konzepte wie Demokratie, Liberalismus und Nation im Grundsatz verschieden. Zudem ist die Regierung eindeutig populär: Ministerpräsident Viktor Orbán hat über eine Million Facebook-Follower. Besonders die Zustimmung der älteren Bevölkerungsteile scheint in den letzten Wochen gestiegen zu sein. Sie scheinen dem Bild des fürsorglichen, väterlichen Staates gegenüber aufgeschlossen. Weder Orbáns Beliebtheit noch die seiner Regierung sollten jedoch überschätzt werden. Die Dominanz der Regierungspartei Fidesz in den letzten zehn Jahren zeugt eher von oppositioneller Inkompetenz als von der Popularität des Kabinetts. Mehr Insolvenzen, höhere Steuern und steigende Arbeitslosigkeit werden die Unzufriedenheit der Bevölkerung in Zukunft zwangsläufig steigern.

Bonner Akademie: Wie empfindet die ungarische Bevölkerung die wiederholte scharfe Kritik der anderen EU-Staaten? Herrscht das Gefühl vor, Ungarn werde ungerecht beurteilt?
Bodó: Ungarn ist eine linguistische Insel. Nur eine Minderheit spricht eine zweite Sprache, noch weniger Bürger konsumieren ausländische Nachrichten. Die Regierung und ihre Sympathisanten kontrollieren den größten Teil der inländischen Medien. Diese Kanäle beschäftigen sich wenig mit dem Bild Ungarns in den Nachbarländern. Deutschland hat für Ungarn eine besondere Bedeutung, danach folgen in der medialen Wahrnehmung der politischen Elite Großbritannien und die USA. Das EU-Parlament wird als schwache Institution wahrgenommen. Dort vertretene Meinungen werden als voreingenommene, ignorante und anti-ungarische Propaganda der Linken und Grünen abgetan. Die Unterstützer der Regierung tendieren dazu, diese Sichtweise der EU und ihrer Kritik an Ungarn zu teilen. Die Opposition heißt westliche Kritik willkommen und ist eher der Meinung, sie sei nicht scharf genug. Der Rest des Volkes ist zu beschäftigt mit Alltagsproblemen, um sich darum zu kümmern. Ungarischer Nationalismus findet seine Ventile eher in Xenophobie (besonders gegen Sinti und Roma) als in Anti-EU-Rhetorik. Trotz aller Spannungen mit dem Westen und der Kritik gegenüber Brüssel in den Medien ist die Vorstellung der EU als Wertegemeinschaft weiterhin populär in Ungarn, sogar bei Regierungswählern. Dies wird sich voraussichtlich auch in Zukunft nicht ändern.

Hinweis: Prof. Béla Bodó beantwortete die Fragen ursprünglich auf Englisch. Wir haben seine Antworten ins Deutsche übersetzt und aus redaktionellen Gründen leicht gekürzt. Hier finden Sie das ungekürzte Interview im Original.

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