Kann, soll oder darf die deutsche Regierung noch mit einem Mann reden, dessen Land sich mit einem NATO-Partner praktisch im Krieg befindet? Bei einem russischen Luftangriff in der nordsyrischen Provinz Idlib sind in dieser Woche nach türkischen Behördenangaben 33 Soldaten getötet worden. Russlands Regierungschef Wladimir Putin ordnete außerdem die Entsendung von zwei weiteren Kriegsschiffen ins Mittelmeer an.
Bilder: BAPP / Günther Ortmann
Text: Max Grönegräs
In diesem nicht vorhersehbaren aktuellen Kontext stellte die Bonner Akademie für Forschung und Lehre Praktischer Politik (BAPP) bei einer Podiumsdiskussion am Donnerstagabend die Frage: „Russland – Zeit für einen neuen Dialog?“ mit vorhersehbaren Kontroversen zwischen der Journalistin und Russlandexpertin Golineh Atai einerseits, sowie Matthias Platzeck (Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums) und Ronald Pofalla (Vorstandsvorsitzender des Petersburger Dialogs) auf der argumentativen Gegenseite.
Zum „Ob“ eines Dialogs herrschte noch weitgehend Konsens, als BAPP-Präsident Professor Bodo Hombach mahnte: „Diplomatie ist keine Schönwetterveranstaltung beim Sektempfang, sie ist Katastrophenschutz. Sie wurde als politischer Schlüsselfortschritt erschaffen.“
Beim „Wie“ gingen die Vorschläge in der von Anja Bröker, ehemalige Auslandskorrespondentin der ARD in Moskau moderierten Debatte diametral auseinander. Pofalla sprach sich für die Fortsetzung einer engen Zusammenarbeit aus. Deutschland und Russland seien aufeinander angewiesen, vor allem in Bezug auf die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2: „Ohne russisches Gas als Übergangsenergieträger werden wir die Energiewende, für die Schülerinnen und Schüler hier freitags auf die Straße gehen, nicht bewältigen können.“
Golineh Atai kritisierte den deutschen Umgang mit den Nachbarn im Osten im Reflex auf die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit scharf. „Für einen Dialog braucht es immer zwei Seiten“, sagt Atai. „Seit 2014 ist die andere Seite aber zunehmend verschlossen und spricht eine Sprache der Verweigerung.“
Seit dem Anschluss der ukrainischen Halbinsel Krim an die Russische Föderation 2014, bis heute von Europa als eine völkerrechtswidrige Annexion angesehen, tobt in der Ostukraine ein blutiger Krieg zwischen russischen und ukrainischen Streitkräften. Die UNO schätzte Ende 2018 die Zahl der Toten auf circa 30.000. Im Syrienkrieg unterstützt Putin jetzt den Machthaber Assad vor allem mit seiner starken Luftwaffe. Dazu kommt auf russischer Seite die völlige Ignoranz völkerrechtlicher Standards: 2019 wurde ein junger Georgier mitten in Berlin ermordet, laut zahlreicher Hinweise soll der mutmaßliche Mörder im Auftrag staatlicher russischer Stellen gehandelt haben. Bundeskanzlerin Angela Merkel reiste dennoch im Januar zu Gesprächen mit Putin nach Moskau, begleitet von Außenminister Heiko Maas. Zeigt Deutschland gegenüber Russland nicht zu viel Schwäche und zu wenig Strenge? Für Russlandexpertin Atai zweifelsfrei. Sie hält ein Verhältnis auf Augenhöhe zur russischen Regierung für zunehmend schwierig, da diese damit angefangen habe, sich selbst als „das Andere“ gegenüber dem Westen zu definieren. Atai: „Ich bin selbstverständlich auch für Kooperation. Aber Kooperation um der Kooperation Willen ist nun mal leider nicht immer Russlands Priorität.“
Matthias Platzeck widerspricht vehement: „Gerade dass jemand anders ist als wir, sollte für uns eine verstärkte Aufforderung zum Dialog sein.“ Der Politiker warnt davor, Russland mit erhobenem Zeigefinger gegenüberzutreten, er rät zu Geduld statt Abschottung gegenüber Russland. Platzeck: „Wir sollten mit Weitsicht auf eine längere Strecke schauen und nicht verlangen, dass die Russen morgen so sein müssen wie wir.“
Atai hielt die Frage dagegen,wie repressive Maßnahmen gegenüber der russischen Zivilbevölkerung einzuordnen sind, von denen es allein während der dritten Amtszeit von Putin über 50 gegeben habe. Außerdem, so Atai, hätten die Beliebtheitswerte des Präsidenten ein historisches Tief von 35 Prozentpunkten erreicht.
Hier schloss sich der Kreis der Debatte wieder Richtung Konsens. Auch Pofalla sieht die Ära Putin in der Götterdämmerung, die Zeit danach werfe schon Schatten voraus: „Ich habe im russischen Parlament bereits einige beeindruckende Persönlichkeiten kennenlernen dürfen, die mir Hoffnung geben.“ Platzeck fügt hinzu: „Hinter Putin hat sich eine liberalere Fraktion gebildet. Diese hat erkannt, dass man soziale Fragen, die Umweltgesellschaft und die neuen Ansprüche einer jüngeren Generation Russen beachten muss, wenn man die nationale Gesellschaft für sich gewinnen will.“
Pofallas klares Schlusswort: „Man darf durchaus hoffen, dass nach Putin auch mal wieder jemand kommt, der das Land zum Positiven verändern will!“